Zeitschrift für Bildende Kunst,
Leipzig. XXII, 1887,
Richard Muther über
Bruno Piglhein
„Die
Nachahmung dieses modernen Franzosentums zeigt auch B. Piglhein, der, ebenfalls
sehr begabt, mit einem Gekreuzigten 1879 Aufsehen machte, um dann 1883 durch
allerhand Hetärenmalerei ein gewisses Publikum anzuziehen und sein Talent zu
verwüsten“. Das sind die lakonischen Worte, mit denen Pecht in Rebers
„Geschichte der neueren deutschen Kunst“ über Piglhein berichtet, nachdem er
vorher Fritz v. Uhde als einen „Nachahmer der französischen Impressionisten“
kurz abgetan. Aber wie seitdem Reber selbst in einem eingehenden Aufsatz die
hervorragende Bedeutung Uhde’s gewürdigt hat, so wird wahrscheinlich in einer
neuen Auflage auch das Unheil über Piglhein wesentlich anders lauten, da auch
Piglhein seitdem Werke geschaffen hat, worin er sich den Besten seiner Zeit
würdig zur Seite stellt.
Wie
Uhde’s, so beruht auch Pigelheins künstlerische Bedeutung weit auf
ursprünglicher Anlage als auf Schulung; er hatte Künstlerblut mit auf die Welt
bekommen. Am 19. Februar 1848 in Hamburg als Sohn eines angesehenen Dekorateurs
geboren, lernte er sich schon als Knabe in das Handwerk ein, indem er unter der
Anleitung seines Vaters zahlreiche kunstgewerbliche Zeichnungen anfertigte. Ein
kleines, noch erhaltenes Blatt „Hagen und Volker auf der Wache“, wozu ihn die
Lektüre von Simrocks Übersetzung des Nibelungenliedes anregte, bezeugt, dass er
schon damals eine gewisse Geschicklichkeit im figürlichen Zeichnen besaß. Nach
Vollendung der Schuljahre trat er in das Atelier des Hamburger Bildhauers
Lippelt ein, nach dessen Tode 1848 er nach Dresden ging, um auf der dortigen
Akademie seine weitere Ausbildung zu suchen. Doch hätte Piglhein dieselbe schon
nach zwei Jahren wegen „Talentmangels“ wieder verlassen müssen, wenn ihn nicht
Schilling in sein Atelier aufgenommen und an den Figuren der Brühlschen
Terrasse beschäftigt hätte. Aber seine plastischen Arbeiten waren zu
realistisch und malerisch, wie eine kleine, noch jetzt im Atelier bewahrte
Gruppe „Großmutter, ihren Enkeln Märchen erzählend“ bestätigt. Der junge
Künstler gab daher seine Absicht, Bildhauer zu werden, auf und malte, nachdem
er mit seinem Vater eine Reise nach Italien gemacht hatte, in Hamburg
versuchsweise das Porträt seiner Schwester. Dasselbe gelang, und Piglheins
Entschluss war gefasst. Er ging auf die Kunstschule nach Weimar, um unter
Pauwels sich zum Maler auszubilden. Doch das kleinstädtische Wesen sagte dem
Großstädter nicht zu; schon nach einem halben Jahre (1870) siedelte er nach
München über und wurde Schüler von Wilhelm Diez . Als Diez-Schüler wird er
seitdem gewöhnlich bezeichnet, obwohl er auch unter diesem nur sehr kurze Zeit
arbeitete und kaum mehr als einige Studien, Skizzen und Porträts vollendete.
Mit
seinem 23. Jahre war er bereits selbständig und fühlte sich besonders zu den
dekorativen Arbeiten Makarts hingezogen. Schon die im Oktober 1873 im Hamburger
Kunstverein ausgestellte „von Genien bekränzte Herme“ lässt den Einfuß des
Wiener Meisters erkennen; noch klarer tritt derselbe aber in den großen
Dekorationen hervor, die Piglhein für verschiedene Hamburger Patrizier malte.
Für die Villa seines Bruders entwarf er ein Plafondgemälde „Tag und Nacht“, für
das Treppenhaus der Villa Ohlendorff ein im November 1875 vollendetes Bild „Das
häusliche Glück“, eine friesartige Komposition, die in beinahe lebensgroßen
Figuren ein junges Ehepaar von blühenden Kindern und zahlreicher Dienerschaft
umgeben darstellt, während sich dahinter stattliche Park- und Gartenanlagen
ausdehnen. Rechnet man dazu noch den schönen Kinderfries, den er bald darauf
dem Maler Ludwig Lesker in München schenkte, so hat man die hervorragendsten
dekorativen Arbeiten Piglheins aufgezählt, die in ihrem saftigen Kolorit, ihrer
breiten, glänzenden Pinselführung an Makarts Vorbild erinnern, an plastischer
Gestaltungskraft demselben sogar überlegen sind.
Nach
Makart war es Boecklin, der frühzeitig den jungen Künstler in seinen Bann zog,
wie man aus einer Gruppe von Bildern ersehen kann, durch welche alle eine
eigentümlich phantastische, an Boecklin erinnernde Stimmung hindurchgeht. Wir
wählen hierzu eine für seine Schwester in Hamburg gemalte Badeszene „Am
Strande“, ferner die geistreiche Skizze eines Bacchanals und mehrere
Darstellungen von Zentauren. Nur eines dieser Werke – das Zentaurenpaar *), das
sich bei aufsteigendem Gewitter am Meeresstrande Rendezvous gegeben – erregte
wegen seiner stofflichen Ursprünglichkeit und wegen des lebendigen Ausdrucks
leidenschaftlicher Empfindung auf der letzten internationalen Ausstellung in
München Aufsehen. Unbekannt war aber, dass dasselbe schon nach der Mitte der
70er Jahre entworfen wurde, und dass damals noch vier andere große
Zentaurenbilder entstanden, von denen man eins im Besitze des Malers Papperitz
in München, die anderen noch im Atelier des Künstlers sieht. Ihren originellen
Charakter kann man wenigstens einigermaßen aus den beiden Zeichnungen
beurteilen, die 1879 in den bei Bassermann in München erschienenen
„Künstlerlaunen“ veröffentlicht wurden.
Während
diese Werke hauptsächlich durch ihre phantastisch-poetische Stimmung die
Aufmerksamkeit erregen, zeichnen sich andere durch ihr treues, intimes
Naturstudium und durch seine Charakteristik des Seelischen aus. In der großen
Hamburger Menagerie malte er eine Reihe von Tierbildern, besonders Löwen und
Tiger, die eine ganz hervorragende Begabung für die Auffindung des Seelischen
in der Tierwelt erkennen lassen. Die Anwesenheit der Nubierkarawane in München
gab ihm den Stoff zu mehreren ethnographisch und volkspsychologisch äußerst
wertvollen Arbeiten. Mit Vorliebe aber machte er Kinder im Zusammensein mit
Tieren – also den interessanten Kontrast zwischen der Tier- und Menschenseele –
zum Gegenstand der Darstellung, wie er denn schon damals für Herrn Schoen in
Worms ein kleines Ölbild, die nachmals so berühmt gewordene Idylle „Kind und
Hund am Ufersteg sitzend“, malte.
Das
Publikum sah von diesen Werken nur wenig, da Piglhein äußerst selten
ausstellte. Das Hamburger Familienbild von 1875 war ziemlich das einzige,
welches damals im Münchener Kunstverein zu sehen war. Aber dasselbe hatte doch
genügt, um die Aufmerksamkeit auf den Künstler zu lenken. „Mit Bruno Piglhein“,
schrieb damals der Berichterstatter dieser Zeitschrift, „ist eine junge Kraft
in die Arena getreten, die wohl noch manchen Sieg erringen wird“. Und er hatte
sich nicht getäuscht; das bezeugte die Münchener Ausstellung von 1879, auf
welcher Piglhein mit seinem großen Kreuzigungsbilde „Moritur in Deo“ vertreten
war. Das schwierige Problem der Darstellung, wie der hinter dem Kreuze
schwebende Todesengel den sterbenden Christus auf die Stirn küsst, war hier mit
vollendeter Meisterschaft gelöst; alle Konsequenzen aus dem Kreuzigungstod
waren mit unerschrockener Rücksichtslosigkeit gezogen, der menschliche Körper
in seiner tiefsten Erniedrigung vorgeführt; es war nebenbei auch ein
koloristisches Bravourstück geliefert. Aber mehr als das! Um das Haupt des
Dulders spielte gleichzeitig die Glorie der göttlichen Majestät, und aus seinen
Augen sprach ein solcher Reichtum seelischer Empfindungen, dass das Bild bei
vollster Realität in der Modellierung und im Kolorit doch auch im wahrsten
Sinne stimmungsvoll und ergreifend wirkte.
Die
Kritik war des Lobes voll, aber – der Käufer blieb aus. Eine Madonna hatte
Piglhein nach Nürnberg, eine andere nach Amerika verkauft; seine übrigen
Arbeiten hingen mit Ausnahme derjenigen, die er verschenkt hatte, noch fast
vollzählig in seinem Atelier; er hatte trotz seiner großen Fruchtbarkeit noch
fast nie materielle Erfolge erzielt. Kein Wunder, wenn er auf einen Antrag
seines Landsmannes, des erfahrenen Kunsthändlers Ackermann, einging und sich
entschloss, auch einmal auf einem anderen, ganz entgegengesetzten Gebiete seine
Kraft zu erproben. Er warf Pinsel und Palette bei Seite und griff zum Pastellstift.
Nachdem Lenbach durch seine geistreichen Kohlen- und Kreideskizzen die
Pastellmalerei in München zu Ehren gebracht, war es Piglhein, der jetzt zur
farbigen, rein malerischen Behandlung des Pastells fortschritt. Aber nicht nur
technisch, auch stofflich bezeichnen diese Arbeiten eine neue Phase in der
Entwicklung des Künstlers; sie waren nicht mehr von religiöser, sondern
meistens von weltlicher Gesinnung begleitet. Der 1883 ausgestellte Christus,
aufgefasst in dem Momente der Agonie, wo dem Verscheidenden das Auge bricht und
die Pupille erstarrt, die diesem Aufsatze in Abbildung beigegebene „Beatrice“
und eine kürzlich vollendete, im Besitze des Prof. Sattler in München
befindliche „Maria unter dem Kreuze“, bei der es dem Künstler darauf ankam, den
ergreifenden Ausdruck jenes Schmerzes zu finden, der zu groß ist, um sich in
Tränen Lust zu machen, sind die einzigen Werke, welche noch an Piglheins
frühere Richtung erinnern; im übrigen griff er jetzt „hinein ins volle
Menschenleben“.
Zunächst
war es das Ewig-Weibliche mit allen seinen Reizen, mit seiner Körper- und
Toilettenpracht, das unter dem Lustre von Piglheins Pastellfarben hervorwuchs.
Die Kokotte an der Staffelei, mit einem japanischen Puppenfigürchen spielend,
und die auf dem Divan nachlässig hingestreckte Dame, die ihren Papagei mit
Apfelsinenschnitzen füttert, - das waren die beiden Sensationsstücke, mit denen
er die Wiener Ausstellung 1882 und die Münchener 1883 beschickte. Pieretten,
weibliche Jockeys, spanische Tänzerinnen, Balldamen mit mächtigem Fächer und
zahlreiche andere pikante Damenbilder schlossen sich an. Im größten Gegensatze
zu diesen modernen Frauenfiguren standen die unschuldigen Kinderbilder, unter
welchen wieder diejenigen, in denen er Kinder in ihrem Spiel mit Tieren vorführt
oder verschiedene Volkstypen einander gegenüberstellt, wegen des fein
charakterisierten seelischen Gegensatzes Beachtung verdienen. Für die Königin
von Württemberg hatte er seine reizende „Idylle“ in Pastell zu wiederholen, die
jetzt in mannigfacher Vervielfältigung durch die Welt wanderte. Da Kind und
Hund vom Rücken dargestellt waren, regte sich der Wunsch, dieselben auch von
vorn zu sehen, und so entstand das nicht minder gelungene Gegenstück. Der
„kleine Blondkopf“, der „Hirtenknabe“, die „Spielgefährten“, „Mein Kätzchen“,
die „Antipoden“ waren weitere psychologisch sein durchgeführte Bilder dieser
Art. Zu diesen Genrefiguren kommt schließlich noch eine Reihe von Porträts, in
denen er bald schöne Frauen der Münchener Gesellschaft, bald anmutige Kinder,
wie das des französischen Gesandtschaftssekretärs De la Motte, in nobler
Auffassung und seiner Charakteristik vorführt. Hervorzuheben sind namentlich
zwei im Auftrage der Kaiserin Elisabeth von Österreich gemalte Bildnisse der
Prinzessin Elvira von Bayern, von denen das eine die Prinzessin in einem
prächtigen Festkleide mit einem japanischen, gestickten Entrée, vornehm in der
Haltung, gewinnend im Ausdruck, liebreizend in der treuen, künstlerisch seinen
Wiedergabe der jugendlichen Formen darstellt, während sie auf dem anderen in
einer aparten Frühjahrstoilette von auserlesenem Geschmack erscheint.
Das
Aufsehen, welches diese Pastelle erregten, war ein gewaltiges. Eine Schar von
Nachahmern schloss sich sofort an Piglhein an. Und als sich dieser gar
entschloss, eine Reihe seiner Arbeiten gesammelt in einem großen, bei Ackermann
erschienenen Prachtwerke herauszuheben, da kannte die Piglhein-Verehrung bald
keine Grenzen mehr. Auf jedem Salontisch sah man seine „Douze pastels“; in
jedem Schaufenster prangte seine Pierette, sein Petit Chien, sein Entracte,
sein Petit Blondin, sein Pschutt, seine Danseuse; keinen Maskenball konnte man
besuchen, ohne nicht auf Schritt und Tritt einem „Piglhein“ zu begegnen.
Die
Kritik freilich bewegte sich in Einseitigkeiten und Widersprüchen. Während die
französischen, englischen und amerikanischen Blätter mit Lob nicht kargten,
urteilte man in Deutschland hart und ablehnend. Die zahlreichen Kinderbilder
und Porträts wurden ignoriert, während die bekannten Damenbilder Anlass zu allerhand
empfindsamen Auslassungen über „Sittenverfall und Hetärenmalerei“ boten. Aber
hätte man sich nicht lieber freuen sollen, dass die Zeiten des nüchternen
Idealismus glücklich vorüber sind! Hätte man nicht hinweisen können auf die
originelle Wahl der bald launigen, bald ernsten Motive oder auf die
hervorragende Feinheit der Formgebung! Hätte man nicht einen Künstler bewundern
müssen, aus dessen Händen als Produkte seiner müßigen Stunden solche
formvollendete Werke hervorgingen! Denn Piglhein hat die Pastellmalerei
lediglich als Spielerei betrieben; sie diente ihm dazu, die Eingebungen seiner
Phantasie rascher zu verkörpern, als es in der mühsamen Öltechnik möglich ist,
und er ist deshalb auch nie über eine geistreich skizzenhafte Behandlung
hinausgegangen. Seine Nachahmer verkennen die grenzen des Pastells, indem sie –
was in dieser Technik nie möglich ist – den Schein voller Naturwahrheit zu
erreichen suchen; und aus diesem Grunde kommt keiner auch nur annähernd an sein
Vorbild heran.
Übrigens
dauerte die Pastellzeit bei Piglhein nur zwei Jahre, da wurde er vor eine
Aufgabe gestellt, die wieder seines ernsten künstlerischen Strebens und seiner
Leistungskraft würdig war. Als Ende 1884 Louis Brauns Panorama der Schlacht von
Weißenburg nach Berlin verkauft wurde, handelte es sich darum, in München ein
neues Panorama zu errichten. Nachdem die Verhandlungen mit der
Panorama-Aktiengesellschaft zu keinem Ergebnis geführt hatten, entschloss sich
der Privatmann Hotop, das Panorama auf seine Kosten zu gründen, und beauftragte
Anfang 1885 Piglhein, zu diesem Zweck die Kreuzigung Christi zu malen. Nachdem
das Interesse an den landläufigen Schlachtenbildern und landschaftlichen
Prospekten erschöpft war, sollte also hier zum ersten Mal in Deutschland der
Versuch mit einem großem Historienbilde gemacht werden. Dieser Versuch war um
so gewagter, da De Vriendt mit seinem Panorama der Kreuzigung in Belgien
entschiedenes Fiasko gemacht hatte und außerdem auch in München die Wahl gerade
dieses Themas vielfachen Tadel erfuhr. Doch Piglhein ließ sich dadurch nicht
abschrecken. Er begab sich in Begleitung des Architekturmalers Karl Frosch und
des Landschaftsmalers Joseph Krieger zum Zwecke der landschaftlichen Vorstudien
auf mehrere Monate nach Palästina und begann nach seiner Rückkehr – unterstützt
von Frosch und Krieger, sowie von dem Landschaftsmaler Adalbert Heine und
seinem Schüler Joseph Block – am 25. August 1885 die Arbeit, welche am 30. Mai
1886 vollendet war.
Hier
zeigte sich wieder einmal, wie der Künstler mit seinen Aufgaben wächst, wie
erst eine große Aufgabe die volle Entfaltung eines Talentes ermöglicht.
Auf
einer Leinwandfläche von 1700 Quadratmetern führt er uns den 7. April des
Jahres 34 unserer Zeitrechnung vor, nicht nach dem Schema der herkömmlichen
Darstellungen, sondern in durchaus freier, vorher niemals versuchter Weise. Der
bisher – auch von De Vriendt – einseitig religiös aufgefasste Gegenstand ist
hier, dem realistischen Zuge unserer Zeit entsprechend, zu einem umfassenden
kulturgeschichtlichen Gesamtbild erweitert, das uns in allen Einzelheiten das
große Drama miterleben lässt, welches die Weltgeschichte in neue Bahnen lenkte.
Der Beschauer steht auf einer Plattform, die als eine Anhöhe neben dem
Golgathahügel gedacht ist, und sieht vor sich eine unfruchtbare Gegend mit
dürrer, sonnenversengter Vegetation, mit nackten zerstückelten Felsen. Die
Sonnenfinsternis ist bereits eingetreten und daher in die Landschaft jene
eigentümlich fahle Stimmung gekommen, wie sie das Auge an grellen Sommertagen
wahrnimmt, wenn sich die Sonne plötzlich hinter Gewitterwolken verbirgt. Durch
diese Finsternis bestürzt ziehen Handelskarawanen mit ihren Kamelen auf der
Strasse von Joppe eilig nach den Toren Jerusalems hin. Sonst ist die Straße nur
wenig belebt; man sieht im Vordergrunde vereinzelte Gruppen, etwas weiter
Karawansereien, die Hirtenansiedlungen beim Flecken Emaus und einsame
Felsengräber. Nur die Bodensenkung unmittelbar vor dem Golgathahügel ist dicht
von Menschen gefüllt. Dort, wo sonst nur kranke Bettler hausen, denen der
Besuch der Stadt verboten ist, oder wo nach Sonnenuntergang die Mädchen zum
Brunnen eilen, um Wasser aus der Felsquelle zu schöpfen, sind heute Bewohner
Jerusalems in Massen zusammengeströmt, um von hier einen freien Blick nach dem
nahen Hügel zu gewinnen. Aller Augen sind nach dem Gipfel des Berges gerichtet,
wo Christus inmitten der Schächer am Kreuze hängt und seine Worte spricht.
Ringsum stehen seine Angehörigen, voran Maria, das Auge wie fragend auf das
Antlitz des Sohnes gerichtet, weiter entfernt die übrigen Freunde. Die Gruppe
der würfelnden Kriegsknechte und der das Volk abwehrenden Söldner leitet dann
zu dem bunten Treiben über, das sich auf dem freien Platze rechts vom
Golgathahügel vor den Mauern Jerusalems entfaltet. Da sind Käufer und Verkäufer
zur Feier des Osterfestes von nah und fern zusammengekommen, um ihre Waren
auszutauschen. Und darüber endlich zieht sich in majestätischer Ruhe die Stadt
Jerusalem hin, aus deren Häusermeer die Burg Antonia, der Tempel, der Palast
der Hasmonäer und die Herodianische Königsburg hervorragen.
Man
sieht, das Bild bezeichnet einen Triumph der modernen realistischen Kunst. Erst
das Jahrhundert der exakten Wissenschaft, der Photographie und der Eisenbahnen
ermöglichte die umfassenden Studien, welche die wissenschaftliche Grundlage des
großen Werkes bilden. Nur ein Künstler, der vor Ort und Stelle die
gründlichsten landschaftlichen, volkstypischen und archäologischen Forschungen
gemacht hatte, vermochte den unzählige Male dargestellten Gegenstand in so
durchaus neuer Weise zu behandeln. Aber dieses gründliche Wissen ist überall
mir einem eminenten Können, einer groß veranlagten Phantasie und feinstem
künstlerischen Empfinden gepaart. In einzelnen Figuren – die zum größten Teil,
einer guten alten Sitte gemäß, vorher als Akte untermalt wurden – offenbart
sich eine so plastische Formenbeherrschung, dass man unwillkürlich an den
Bildhauer Piglhein erinnert wird. In der feinsinnigsten Weise ist die letzte
Zwiesprache zwischen Maria und ihrem Sohne aufgefasst; meisterhaft ist die
bewegte Volksmasse geschildert, die dem Vorgang mit den geteiltesten
Empfindungen folgt: idyllisch und in sich abgeschlossen wirken die Gruppen der
wasserschöpfenden Mädchen, der kranken Bettler oder der gleichgültig ihrer
Beschäftigung nachgehenden Handwerker; ganz unbeschreiblich endlich ist der
Eindruck der durch Olivenhaine und Berge begrenzten Landschaft, die in
einzelnen Partien Stimmungsbilder von geradezu grandioser Wirkung bietet.
Bedenkt man, dass Piglhein im Orient sich ausschließlich auf photographische
Aufnahmen beschränkte und nach seiner Rückkehr ohne Zuhilfenahme irgend eines
Modells innerhalb neun Monaten das gewaltige Werk auf die Leinwand schrieb, so
kann man sich der Empfindung nicht erwehren, dass man hier in der Tat einem Künstler
von Gottes Gnaden gegenübersteht.
Erwähnen
wir noch, dass Piglhein, wenn ihm auch erst die Vollendung des Panoramas dem
Professortitel einbrachte, doch wegen seiner vielseitigen Bildung und seines
scharfen Urteils schon seit Jahren in der Münchener Künstlerschaft eine
hervorragende Stellung einnimmt; dass viele schnell emporgekommene Größen ihr
Können zum guten Teil ihm verdanken, der sie nicht nur mit technischem Beirat,
sondern auch in handgreiflicher Weise unterstützte; dass er vermöge seines hervorragenden
Lehrtalentes, um das ihn mancher Akademieprofessor beneiden könnte, im Verein
mit Uhde und Habermann auch als Lehrer schon eine fruchtbare Wirksamkeit
entfaltet hat, - so haben wir wenigstens andeutungsweise einen Meister
charakterisiert, der bisher von der Kritik einseitig und stiefmütterlich
behandelt wurde.
Durch
den Panoramaauftrag ist der Künstler seinem eigentlichen Schaffensgebiete, der
monumentalen Historienmalerei, zurückgegeben. Sein Werk, wodurch der
Panoramamalerei neue, ungeahnte Bahnen eröffnet wurden, wird voraussichtlich
weitere große Aufträge im Gefolge haben. Auch verschiedene Tafelbilder, wie
eine Grablegung Christi und eine Versuchung des heil. Antonius, harren schon im
Atelier ihrer Vollendung. Mögen auch diese Leistungen die hohen Erwartungen
erfüllen, zu welchen seine bisherige Tätigkeit berechtigt!
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*) Im Eigentum des
Kunsthauses Zürich, (Anm. R.W.)